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Bericht über ein Sozialtraining

Dieser Bericht hat zwei Teile. Der erste gibt Aussagen von Kindern einer 6. Schulklasse wieder, die diese in Einzelarbeit während eines Sozialtrainings auf Karteikarten geschrieben haben. Beim zweiten Teil handelt es sich um den persönlichen Bericht einer Wissenschaftlerin, den diese im Anschluss an eine teilnehmende Beobachtung dieses Trainings verfasst hat.

„Es regt mich auf, wenn ein Lehrer kurz weg ist und alle gleich rumschreien und Quatsch machen. Mich nervt es, wenn Felix beim Fußball als Wixer oder Fick-Dich beschimpft wird.“ Lukas, 11 Jahre)

„Meine Klasse ist sehr laut, und das nervt total.“ (Marie, 11 Jahre)

„Ich mag es nicht, wenn jemand sich zu seiner Meinung äußert und alle geben ihren Kommentar.“ (Nadja, 11 Jahre)

„Mich nervt, wenn jemand meine Sachen wegnimmt. Dass die anderen laut sind. Man wird beleidigt. Man kann niemandem Geheimnisse oder Sachen anvertrauen, weil dann alles weg ist oder weitergesagt wird. Wenn man etwas sagt, dann steht man wie ein Streber da. Leon flippt immer gleich aus. Tobias provoziert mich. Wenn man mit Papier rumwirft.“ (Leonhardt, 10 Jahre)

„Mich nervt: Alle machen dumme Sachen, wenn der Lehrer weg ist. Jeder macht Felix fertig, das ist feige. Manche finden sich cool, wenn sie jemanden beleidigen. Viele rufen rein, obwohl sie nicht dran sind. Es gibt oft Streit zwischen den Mädchen. Manche Mädchen halten sich für etwas Besseres. Mich nervt, wenn mich einer dumm anmacht und meint, er muss zu mir gehässig sein. Es nervt mich, dass die Jungs die Mädchen beschimpfen. Wenn man mich ohne Grund schlägt. Wenn die Jungs im Klassenzimmer rumschreien und Radiergummis durch die Gegend schmeißen.“ (Paula, 12 Jahre)

„Mich nervt, wenn die Klasse unruhig ist, wenn Mitschüler sich prügeln, wenn manche unhöflich sind und sich beschimpfen, wenn man mich beleidigt.“ (Leonie, 11 Jahre)

Diese Aufschriebe von Schülern und Schülerinnen der sechsten Klasse einer Realschule geben wieder, was sie am Verhalten der Mitschüler/-innen ärgert und nervt. Aufgabe der Schüler/-innen war, entsprechende Verhaltensweisen zu beschreiben und dies vor der Klassengemeinschaft vorzulesen. Die Texte entstanden während eines Sozialtrainings, das vom AGJ-Fachverband mit dem Ziel der Verbesserung der Klassengemeinschaft durchgeführt wird und ein Element des Fortbildungs- und Präventionsprogramms Konflikt-KULTUR bildet. Um dies zu erreichen, stehen an zwei Vormittagen das Klassenklima und die Beziehungen der Schüler/-innen untereinander im Fokus der Arbeit.

Ein Element, das an den beiden Vormittagen immer wieder auftaucht, ist die Übertragung von Situationen auf die „Erwachsenenwelt" sowie die Frage nach Gründen für bestimmte Verhaltensweisen. Als beispielsweise Tobias berichtet, dass er auf Provokationen oft mit Zuschlagen reagiere, wird die Klasse von Herrn M., Leiter des Sozialtrainings, gefragt, weshalb Menschen zu dieser Form von Gewalt greifen. Hier antwortet Samet: „Weil man dann bei dem seine Wut auslassen will. Man hat sich nicht selber unter Kontrolle. Man weiß sich nicht anders zu helfen.“ Daraufhin regt Herr M. die Schüler/-innen an, darüber nachzudenken, was in der „Erwachsenenwelt" passieren würde, wenn jemand die Selbstkontrolle verliert und zuschlägt, weil er „blöd" angeschaut wird: „Sie würden ins Gefängnis kommen wegen Körperverletzung.“, lautet die Antwort. Jetzt wird Tobias nach seinem Alter gefragt. Er ist elf und ihm wird klar, dass er noch drei Jahre Zeit hat, um die Bewahrung von Selbstkontrolle zu erlernen, denn mit dem 14. Geburtstag beginnt die Strafmündigkeit.

Zurück zu den Aufschrieben der Schüler/-innen zu dem, was in der Klasse tagtäglich nervt: Diese werden von Herrn M. auf einer Flipchart festgehalten. „In jeder Klassengemeinschaft gibt es Streit und Ärger“, so Herr M., „Ihr seid eine ganz normale Klasse, aber wir müssen darüber reden können, was Euch ärgert und nervt. Das muss besser werden, denn es ist eine ganze Menge, und so lebt es sich nicht gut in einer Klassengemeinschaft, in der ihr noch lange zusammen sein werdet. Wenn man ständig beleidigt wird, dann stresst das, und mit Stress lässt sich schlecht lernen.“

Gemeinsam formulieren die Schüler/-innen auf der Basis der von ihnen benannten Störungen drei Zielvereinbarungen: „Ich verletze niemanden im Herzen", „Ich verletze niemanden am Körper" und „Ich gehe sorgfältig mit den Gegenständen anderer Leute um". Diese drei Ziele berühren, wie Herr M. zusammenfasst, zentrale Menschenrechte: „Jeder Mensch, egal wo er herkommt, egal wo er geboren ist, hat das Recht, dass man ihm nicht im Herzen und nicht am Körper weh tut und dass man sein Eigentum in Ruhe lässt und sorgfältig damit umgeht.“

Am Ende des ersten Vormittags erhalten die Schüler/-innen die Aufgabe, auf einer Karte zu notieren, welche/r Klassenkamerad/-in „es am häufigsten abbekommt", um ein Bild davon zu bekommen, ob Mobbing vorliegt. Deutlich spiegeln die Aufschriebe wider, dass es einen Schüler - Felix - gibt, bei dem die zuvor entwickelten Menschenrechte nicht eingehalten werden und der mehr „abbekommt" als andere Schüler/-innen. Bevor das Mobbingphänomen besprochen wird, verspricht Herr M. der Klasse, dass er nicht nach den Namen der „Mobber" fragen wird, weil es ihm nicht darum geht zu beschuldigen und zu bestrafen, sondern darum, das Problem, welches die gesamte Klassengemeinschaft betrifft, zu lösen. Hierzu, so Herr M., benötige er die Hilfe der gesamten Klasse: Die Schüler/-innen sollen ihm genau beschreiben, wie sie Felix physisch und psychische verletzen sowie sein Eigentum beschädigen.

Die Schüler/-innen benennen ehrlich, was sie bisher beobachtet haben, wobei die Aussage, dass Felix beleidigt wird, nicht ausreicht. Die Klasse wird aufgefordert, konkret zu benennen, was Felix von seinen Mitschülern/-innen zu ertragen hat. Als die Liste der Verletzungen immer länger wird, ist große Betroffenheit spürbar. Den Mädchen und Jungen der Klasse geht auf, wie groß das Ausmaß der Verletzungen ist, die sie Felix bereits zugefügt haben. Die Betroffenheit wächst beim Aufdecken weiterer Verletzungen: an die Wand drängen, boxen, treten, umschubsen, seine Familie beleidigen, seine Sportsachen wegnehmen und herumwerfen, seine Stifte klauen, ihn vom Spiel ausschließen oder über seine Kleider lästern.

Als die Liste vollständig ist, schweigt die Klasse. Eine Schülerin holt ein Taschentuch für Felix, und die Jungen, die neben ihm sitzen, streichen ihm über den Rücken. Die Aufgabe der Klasse besteht nun darin, zu überlegen, wie Felix sich fühlt und in der letzten Zeit gefühlt hat. Die Antworten zeigen deutlich, dass seinen Mitschülern und Mitschülerinnen das Ausmaß der Verletzungen deutlich geworden ist: „schlecht und ausgenutzt“, „abgestoßen und verletzt, „Er fühlt sich allein.“, „dass niemand ihn mag und als ob er nichts wert ist“, „entmutigt, überhaupt noch zu fragen, ob er mitspielen darf“, „traurig und ganz alleine“, „als ob er nicht zu uns gehört“, „wertlos“ …

Damit sie sich noch stärker in Felix` Perspektive einfühlen können und die Solidarität mit ihm wächst, sollen die Schüler/-innen sich überlegen, in welchem Kontext sie ähnliche Erfahrungen gemacht haben, also von einer Gruppe abgestoßen und schlecht behandelt wurden und wie sie sich in dieser Situation fühlten. Sehr offen und ehrlich werden zahlreiche Beispiele benannt. Dabei zeigen die Beispiele das für Mobbing typische Phänomen, auf das Herr M. noch einmal aufmerksam macht: „Man kann nichts dafür. Die picken sich einen einfach raus und dann kriegt man es plötzlich ab und man kann nichts dagegen machen.“

Herr M. macht der Klasse seine Erwartung klar, dass ab sofort alle die Menschenrechte einhalten und notiert über den an der Flipchart dokumentierten Verletzungen den Satz: „Ich respektiere die Menschenrechte!"‘ Hier seien nun möglichst viele Helfer nötig, „die fuchsteufelswild werden, wenn Felix in Zukunft wieder beleidigt oder geschlagen wird oder seine Sachen weggenommen werden, und die diese Verletzungen in dieser Klasse nicht mehr zulassen“. Alle Mädchen und Jungen der Klasse stehen auf und unterschreiben an der Flipchart, dass sie über die Einhaltung der drei Menschenrechte wachen werden. Viele der Kinder gehen in dieser Zeit auf Felix zu, klopfen ihm auf die Schulter, geben ihm die Hand und reden mit ihm.

Ein weiteres Element des Sozialtrainings ist der Lobbrief: Hier erhalten die Schüler/-innen die Aufgabe, einen Brief an die Person aus der Klassengemeinschaft zu schreiben, welche die Menschenrechte besonders vorbildlich einhält. Auch diese Briefe werden im Anschluss vorgelesen und spiegeln deutlich die emotionale Betroffenheit der Kinder darüber wider, wie sie Felix verletzt haben. So erhält Felix als „Lobbriefkönig“ die meisten Briefe mit Texten wie:

„Lieber Felix, ich finde wirklich, dass du sehr nett bist, und ich finde es toll, dass du niemanden im Herzen verletzt. Du hältst dich wirklich an alle Regeln. Und dafür möchte ich Dir in diesem Brief danken. Du beleidigst niemanden und hast auch keinen geschlagen. Du benutzt keine dummen Sprüche. Ich würde mich wirklich echt freuen, wenn ich in der Pause mal mit dir zusammen Fußball spielen könnte. Schöne Grüße, Leon.“

„Lieber Felix, ich finde, du hältst die Menschenrechte gut ein. Das finde ich an dir toll. Ich habe noch nie gesehen, dass du andere schlecht behandelt hast. Danke. Du verdienst diesen Lobbrief wirklich. Ich finde es auch ganz toll, dass du anders bist. Deswegen möchte ich dir ein ganz großes Lob geben. Liebe Grüße, Hanna. PS: Sorry, wenn ich dich mal genervt habe.“

Ein wichtiger Aspekt des Sozialtrainings ist die Sicherung der Nachhaltigkeit, und die Schüler/-innen werden darauf aufmerksam gemacht, dass sie in einigen Wochen erneut die Chance haben werden, einen Lobbrief zu schreiben und somit auch einen zu erhalten: So werden sie von ihrer Klassenlehrerin die Aufgabe gestellt bekommen, einen Brief an den Mitschüler oder die Mitschülerin zu schreiben, der oder die sein oder ihr Verhalten in Bezug auf die Einhaltung der Menschenrechte am deutlichsten verbessert hat. Darüber hinaus werden im Rahmen von anschließenden Reflexionssitzungen weitere Vereinbarungen mit der Klassenleitung getroffen.

Im Anschluss erfolgt eine weitere Runde: Die Schüler/-innen sollen einen Brief an eine Mitschülerin oder einen Mitschüler schreiben, die/der die Menschenrechte oft nicht einhält, also oft prügelt, schubst, beleidigt oder Sachen wegnimmt. Und obwohl dies, wie der Leiter formuliert, „die größte Mutprobe“ ist, melden sich viele Schüler/-innen und möchten ihren Brief vorlesen. Dabei haben sich zum Beispiel Katrin und Sandra gegenseitig geschrieben.

Sandras Brief lautet: „Liebe Katrin, ich finde es doof, dass du mich immer beleidigst, zum Beispiel ‚fick dich ins Knie' oder ‚Hurensohn', oder du schlägst mich, boxt mich, trittst mich. Ich wünsche mir von Dir, dass Du damit aufhörst. Deine Sandra.“

Auch Katrin ärgert sich über ein bestimmtes Verhalten von Sandra: „Liebe Sandra, immer wenn ich sauer bin, sagst du immer ‚beleidigte Tussi‘. Wenn ich sauer bin, dann bin ich sauer, und wenn du beleidigt bist, dann sage ich das auch nicht. Hör bitte damit auf. Katrin.“

Hier werden die Mädchen gebeten, den Wunsch der anderen jeweils mit eigenen Worten wiederzugeben und gefragt, ob sie bereit seien, diesen zu erfüllen. Beide bejahen sichtlich erleichtert und unterschreiben an der Flipchart eine „Unterlassungserklärung": Das heißt, Katrin unterschreibt, dass sie Sandra ab sofort nicht mehr beleidigt und schlägt, und Sandra erklärt mit ihrer Unterschrift, dass sie Katrin in Ruhe lassen wird, wenn diese sauer ist.

Die Schüler/-innen sollen sich auch noch überlegen, was in der Erwachsenenwelt passiert, wenn Verträge nicht eingehalten werden und Herr M. macht ihnen klar, dass sie das Recht haben, Anzeige bei einer Lehrkraft zu erstatten und dass eine Verletzung von schriftlichen Verträgen Konsequenzen hat. Denn es gehe nicht darum, „einmal über alles geredet zu haben", sondern um eine nachhaltige Verbesserung des Klassenklimas.

Hier endet das Sozialtraining mit einem Rollenspiel, während dessen die Schüler/-innen lernen, zwischen richtigem und falschem Wehren zu unterscheiden und über den Unterschied zwischen Petzen und sich Wehren diskutieren sowie mit einem Lob des Trainers: „Ihr habt eine tolle Leistung gezeigt. Ihr wart sehr mutig. Das war nicht einfach an diesen zwei Tagen. Und jetzt werde ich heute Nachmittag mit Euren Lehrern besprechen, dass sie Euch weiter begleiten. Ihr habt Eure Ziele jetzt vor Euch, und jetzt geht es um Euch. Das heißt, es geht darum, dass ihr die Menschenrechte in Zukunft einhaltet." Sichtlich bewegt verabschiedet sich die Klasse von Herrn M.

„Eine Schule muss über einen Kanon von
Regeln verfügen, den alle gemeinsam
vertreten.
Joachim Bauer
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„Mutig, hilfreich, praxisnah – die Autoren bringen Klassenführung und soziales Lernen auf den Punkt."

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